Zur Bundestagswahl 2021 zeigte die Bilanz von acht Jahren Schwarz-Rot wirtschaftspolitisch kein ungetrübtes Bild einer zukunftsfesten Industrienation:
Eine schleppende Digitalisierung und ein Internet, dass nur halb so schnell, aber viermal so teuer ist wie in Rumänien. Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse, bei denen Fahrradwege länger dauern als eine Marsmission. Eine so unzureichende Dekarbonisierungsstrategie, dass sie verfassungswidrig war.
Noch im Dezember nannte Siemens Energy-Chef Christian Bruch die Koalitionspläne in der ZEIT “richtig und wichtig” und begrüßte den Umsetzungsfokus der Ampel. Gesamtmetallchef Stefan Wolf sah im SPIEGEL die Chance, einen Ruck durch das Land gehen zu lassen. Laut FAZ begegnete “die Wirtschaft … der Ampel mit großer Offenheit” (wenn auch nicht mit Vorfreude).
Heute sieht Ursula Weidenfeld im Tagesspiegel die Ordnungspolitik unter der neuen Regierung in Gefahr. Michael Sauga wittert im Spiegel einen faulen Zauber einer neuen Industriepolitik. Und Ulf Poschardt, true to form, ruft in der Welt bereits die Bundesclownspolitik aus.
Drohen Planwirtschaft und Staatskapitalismus?
Das sind, nach noch nicht einmal 100 Tagen im Amt, schwere Geschütze. Der Unmut fokussiert insbesondere das Wirtschaftsministerium. Der “Hort ordnungspolitischen Denkens und Handelns” heißt nun Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz1.
In der Financial Times hat Staatssekretär Sven Giegold skizziert, wie das neue Ministerium wirtschaftliche Transformation und Klimaziele umsetzen will. Das Skizzierte alarmiert Ursula Weidenfeld, es würde eine “Steuerungsbehörde” kreieren. “Ein ganzer Instrumentenkasten werde am Ende die marktwirtschaftlichen Prozesse steuern und einfrieden”.2 Ohne es so zu nennen: Ursula Weidenfeld zeichnet das Bild einer Planwirtschaft.
Michael Sauga wiederum warnt die Ampel davor, den Weg des “Staatskapitalismus” einzuschlagen, und plädiert für eine “kluge” Rollenverteilung: “Der Staat ist meist ein schlechter Unternehmer, und die Unternehmer verstehen in der Regel zu wenig von Politik.” Im Fokus seiner Warnung: die Mission Economy à la Mariana Mazzucato.
Klimakrise vs Marktwirtschaft
Ordnungspolitik hat in der Bundesrepublik Verfassungsrang: 109 GG, Art. 2 verpflichtet den Staat auf ein Gesamtgesellschaftliches Gleichgewicht – das “magischen Viereck” aus Preisstabilität, hoher Beschäftigung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wirtschaftswachstum.
Das “magische” am Viereck: die vier Dimensionen sind gleichwertig und stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. So setzt Ordnungspolitik Leitplanken. Der wirtschaftliche Wettbewerb schafft Innovation und Lösungen, der Markt entscheidet über Erfolg. Konkrete Zielvorgaben sind der Ordnungspolitik fremd. Das Ergebnis bleibt offen.
Dekarbonisierung ist weder gleichwertig, noch gleichartig. Sie ist nicht gleichartig, weil das Reduktionsziel eindeutig, messbar quantifiziert und terminiert ist. Das ist das Gegenteil von ergebnisoffen. Durch diese konkrete Zielvorgabe ist sie nicht auch nicht gleichwertig – zumindest solange nicht, bis das Ziel der Klimaneutralität erreicht ist.
Ein noch magischeres Fünfeck würde nicht funktionieren. Die Klimakrise ist ein kolossales Marktversagen. Gemeinkosten kennt der Markt nicht. Wechselkosten (Lock-in-Effekte durch Infrastruktur und Wertschöpfungsketten) kennt der Markt umso mehr. Das ist die Tragik der Allmende. Der Markt steht energisch für den Status quo. Nicht für den notwendigen Fortschritt. Was heißt dies für die Ordnungspolitik in Zeiten der Klimakrise?
Mehr Müller-Armack, weniger Erhard
Die bundesrepublikanische Soziale Marktwirtschaft3 war bislang weder bestrebt, interventionistisch nationale Champions nach französischem Vorbild zu formen, noch das Gemeinwesen nach US-Vorbild einem alles-verökonomisierenden Turbokapitalismus zu unterwerfen. Alle Nachkriegsregierungen haben sich – mal stärker Richtung allgemeinem Wohlstand, mal stärker Richtung unternehmerischer Wertschöpfung – daran orientiert.
“Wir sprechen von ‚Sozialer Marktwirtschaft‘“, so der geistige Vater der Sozialen Marktwirtschaft Alfred Müller-Armack, “um diese dritte wirtschaftspolitische Form zu kennzeichnen. Es bedeutet dies, dass uns die Marktwirtschaft notwendig als das tragende Gerüst der künftigen Wirtschaftsordnung erscheint, nur dass dies eben keine sich selbst überlassene liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein soll.”
“Dritte wirtschaftspolitische Form … bewusst gesteuerte Marktwirtschaft” – das sind für Anhänger Erhards und Euckens gegebenenfalls provokante Formulierungen. Doch sie gehören ebenso zum wirtschaftspolitischen Kanon der Bundesrepublik wie die Freiburger Schule: Ein ganzer Instrumentenkasten steuert bereits die marktwirtschaftlichen Prozesse (friedet sie aber nicht ein).
Wenn die neue Regierung also ankündigt, “die Ideen des deutschen „Ordoliberalismus“ aufzugreifen und … weiterzuentwickeln”, und zwar zu einer Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft, dann ist das zwar kühn. Es schließt aber an eine wirtschaftspolitische Tradition der Bundesrepublik an.
The Mission: klimaneutral bis 2045
Eine “bewusste Steuerung” marktwirtschaftlicher Prozesse ist bundesrepublikanische Tradition und Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft. Die Warnungen vor Planwirtschaft und Staatskapitalismus wiegen dennoch schwer: Eine Mehrfachrolle des Staates als Regelmacher, Schiedsrichter und Marktteilnehmer erscheint schwer mit marktwirtschaftlichen Prinzipien und Gewaltenteilung vereinbar.
Mariana Mazzucato hat ihren Ruf nach einer aktiveren Rolle des Staates als “Mission Economy” bezeichnet. Dieser Name bezieht sich auf die mittlerweile sprichwörtliche Mondlandung (moonshot mission) der USA in den 60ern. Diese Mission war nicht nur ein seltsames, exhaltiertes, geniales Projekt. Sie war auch der ultimative, nicht-militärische Wettstreit während des Kalten Krieges – the final frontier4.
Es lohnt sich, Kennedys Rede vor dem dem US-Kongress zu lesen. Vor der heute allbekannten “man on the moon”-Formulierung findet sich folgender Absatz:
Kennedy beschreibt nichts anderes als gutes Projektmanagement:
Entscheiden (= nicht nur wollen oder wünschen oder müssen),
führen, alle Ressourcen mobilisieren (= keine Vorbehalte, Konditionierungen),
konkrete, messbare Ziele und engen Zeitplan setzen (= Klarheit und Ungeduld),
Ressourcen und Zeit so nutzen, dass Zielerfüllung gewährt ist (= zu erreichendes Ergebnis bestimmt Ressourcen und Einsatz, nicht umgekehrt).
Missionen sind Projekte, die aufgrund ihres Ausmaßes und Umfangs, aber auch aufgrund ihrer Kühnheit, nur von Staaten geführt werden können. Sie stellen sich, wie jeder große Durchbruch, nicht nur eine inkrementell verbesserte, sondern eine neue Welt vor. Sie lassen Science-Fiction Wirklichkeit werden.5
Doch Missionen sind begrenzt – durch Zielerreichung. Diese Begrenzung – gerade angesichts ihrer fast alles berührenden Mächtigkeit – ist wichtig.
Wirtschaftliche Mobilmachung: Mission, aber richtig
Die Entscheidung für eine klimaneutrale Wirtschaft bis zum Jahr 2045 ist sowohl von Ausmaß und Kühnheit, als auch von Messbarkeit und Zeitplanung missionstauglich. Doch im Vergleich zur Mondlandung ist das Ziel deutlich allumfassender und unübersichtlicher. Es handelt sich nicht um den Bau von Raumfahrzeugen, sondern um den Umbau einer Volkswirtschaft. Darin liegt die besondere Herausforderung.
NASA hat Armstrong nicht alleine auf den Mond geschickt, sondern auch alle notwendigen Ressourcen privatwirtschaftlicher wie öffentlicher und wissenschaftlicher Herkunft genutzt. Aber – und das ist der Unterschied zu einer rein ordnungspolitischen Rahmensetzung – NASA hat das Projekt geleitet.
Der Staat wird die Dekarbonisierungsmission leiten. Die Umsetzung wird, bewusst gesteuert durch einen ganzen Instrumentenkasten, hauptsächlich dezentral und privatwirtschaftlich stattfinden. Doch in zwei Bereichen ist der Staat nicht nur in der Steuerungs- und Zielüberwachungs-, sondern auch in der Umsetzungsverantwortung: Infrastruktur und Beschaffung.
Infrastrukturen – Trink- und Abwasser, Energie- und Datenleitungen, Straßen, Brücken, Gleise und Häfen – sind natürliche Monopole. Sie leiden, wenn sie unreguliert in privater Hand sind, sie dienen allen am besten, wenn sie reguliert und/oder staatlich betrieben werden.
In Transformationszeiten wirken bestehende Infrastrukturen und Wertschöpfungsketten selbst in marktwirtschaftlichen Sektoren hemmend. In all diesen Bereichen erfolgt Wandel nur mit – und teilweise durch – den Staat. Im Bereich Elektromobilität hat Norwegen den Beweis geführt.
Auch Dienste wie ein funktionierender ÖPNV gehören zu den natürlichen Monopolen6. Dort liegen unter anderem auch die Beschaffungshebel des Staats: Es ist ein Verrat an der Entscheidung zur Dekarbonisierung bis 2045, heute noch Busse mit Dieselantrieb zu erwerben.7
Natürlich hat Weidenfeld recht wenn sie fordert, dass Beschleunigung und Vereinfachung nicht nur für den Energiesektor, sondern für Wirtschaft und Politik insgesamt gelten müssen. Wir brauchen eine generelle Mobilmachung im Kampf gegen die Klimakrise (und darüber hinaus), nicht nur im Energiesektor.
Natürlich hat Sauga recht, wenn er staatlich protegierten Champions eine Absage erteilt. Größe ist kein Wert an sich, National oder European Champions sind kein Ziel, sondern Ergebnis von Vorsprung in innovativer Lösungsfähigkeit und Qualität. Auch seine Warnung vor Subventionen sind wohlbegründet: die wirksamsten, nachhaltigsten Instrumente sind meist andere – und sei es, das Geld dort abzuziehen, wo es der Dekarbonisierung entgegenwirkt.
Doch insbesondere bedarf die Dekarbonisierungsmission eines kreativen Ungehorsams: Ein Fokus auf Umsetzen und Ergebnis. Wo Prozesse ihren Zweck verfehlen, kann Transparenz (ohnehin ausbaufähig) übergangsweise an ihre Stelle treten.8 Auch das ist Teil guten Projektmanagements.
Wir haben die Entscheidung getroffen, im Jahr 2045 klimaneutral zu sein. Die Mission Economy kann – richtig gemacht – dies beschleunigen, ermöglichen und das vor allem: sicherstellen, dass wir das Ziel erreichen. Nehmen wir unsere Entscheidung ernst, und handeln wir entsprechend. Dazu braucht es eine Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft. Und Ungeduld und Chuzpe.
Please feel free to let me know where I’m wrong.
I’ll occasionally publish new ideas and thoughts here. Currently in the pipeline: Energy Delivery in Future Mobility, How Micromobility Complements Transit.
Es hat schon einmal eine Metamorphose erlebt: Unter Rot-Grün wurde es mit dem Arbeitsressort zum Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit verschmolzen, ein Vorbote der Agenda 2010. Damals ging es um die Reform des Bereichs nach dem “und”. Heute geht es auch um die Transformation der Wirtschaft selbst.
Das schreibt Giegold nicht. Sehr wohl schreibt er aber, dass die künftige Rahmensetzung “eine hochwettbewerbliche Marktwirtschaft” und “eine Vielzahl technischer Lösungen” ermöglichen soll. Das klingt nicht nach staatlichem Auswahlprozess.
Soziale Marktwirtschaft ≠ Ordoliberalismus ≠ Ludwig Erhard ≠ Wirtschaftswunder.
Diese Begriffe werden häufig fast synonym verwendet. Doch Ordnungsliberalismus nach Walter Eucken ist primär Wettbewerbspolitik, sie kennt sozialpolitische Instrumente über das Ziel eines hohen Beschäftigungsgrads nur als “Vorkehrungen …, um Lücken auszufüllen und Härten zu mildern”.
Dem geistigen Vater der Sozialen Marktwirtschaft hingegen, Alfred Müller-Armack, ging es um eine „institutionelle Verankerung ihres Doppelprinzips in der Wirtschaftsordnung“. Ludwig Erhard tendierte nach Karl Georg Zinn hier Eucken näher (= Korrektiv) als Müller-Armack.
Das Wirtschaftswunder wiederum war eher ein gesamteuropäischer Nachkriegsboom, zusätzlich befeuert durch den Marshallplan.
Zumindest offiziell war diese Mission dezidiert nicht-militärisch: “For the eyes of the world now look into space, to the moon and to the planets beyond, and we have vowed that we shall not see it governed by a hostile flag of conquest, but by a banner of freedom and peace. We have vowed that we shall not see space filled with weapons of mass destruction, but with instruments of knowledge and understanding. … We set sail on this new sea because there is new knowledge to be gained, and new rights to be won, and they must be won and used for the progress of all people. For space science, like nuclear science and all technology, has no conscience of its own. Whether it will become a force for good or ill depends on man, and only if the United States occupies a position of pre-eminence can we help decide whether this new ocean will be a sea of peace or a new terrifying theater of war. I do not say the we should or will go unprotected against the hostile misuse of space any more than we go unprotected against the hostile use of land or sea, but I do say that space can be explored and mastered without feeding the fires of war, without repeating the mistakes that man has made in extending his writ around this globe of ours.” John F. Kennedy Moon Speech at Rice Stadium September 12, 1962
Es gibt auch neuere Beispiele von Science Fiction wird Wirklichkeit, z.B. das Human Genome Project: ein kühnes Unterfangen, dessen Ergebnis enorme wissenschaftliche, kulturelle und medizinische Auswirkungen bis heute hat und noch über Jahrzehnte haben wird.
Ohne Netz-, Fahrplan-, Preis- und Vertriebsharmonisierung bleiben Einzelangebote begrenzt attraktive Angebote. Netzwerkeffekte bedürfen der Integration.
Ausgerechnet die BVG unter einem R2G-Senat wurde diesbezüglich fahnenflüchtig. (Und, lieber BVG-Vorstand Erfurt, es gibt durchaus elektrisch betriebene Doppeldeckerbusse.)
Die neue Bundesregierung hat momentan ihr Schäublesches Rendevouz mit der Realität. Der Staat verstrickt sich im Red Tape, welches er selbst geschaffen hat. Jeder Tag, an dem nicht 7 neue Windkrafträder ans Netz gehen, verdoppelt die Anforderungen für einen folgenden Tag.